2021

Ein Virus schafft, was kein Klimawandel zuvor vermocht hat: Er stellt unser gesamtes Lebens- und Wirtschaftsmodell infrage. Irgendwo im fernen China auf einem Markt für Wildtiere ausgebrochen, entstand binnen weniger Wochen eine globale Pandemie. Bis heute, Anfang Dezember 2020, sind weltweit 64 Millionen Menschen an Covid-19 erkrankt, 1,5 Millionen starben an der Krankheit. Erste Impfstoffe sind entwickelt, doch ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht.

Das meiste stand still, im Frühjahr 2020, beim ersten Shutdown. Nichts ging mehr. Globale Lieferketten brachen zusammen, nicht zuletzt im zunehmend globalisierten Teil des Agrarsystems. Viele Teile der Wirtschaft wurden ins künstliche Wachkoma versetzt, von dem jetzt schon klar ist, dass nicht alle Betroffenen aus ihm wieder erwachen werden.

Eine Pleitewelle, wirtschaftliche Verwerfungen und eine weltweite Rezession von noch ungeahntem Ausmaß zeichnen sich ab. Welche konkreten Auswirkungen die Corona-Krise und ihre wirtschaftlichen Folgen auf die Bekämpfung der beiden anderen globalen Menschheitskrisen, der Klima- und der Biodiversitätskrise, haben, ist zurzeit

nicht absehbar. Immer deutlicher wird jedoch, dass all diese Krisen nicht isoliert betrachtet werden dürfen, dass sie zusammen angegangen werden müssen.

Dazu wird die Art und Weise, wie in der Welt Landwirtschaft betrieben wird, einen nicht unerheblichen Beitrag leisten müssen.

Höchste Zeit also, mit unserem Kritischen Agrarbericht unter dem diesjährigen Schwerpunktthema »Welt im Fieber – Klima & Wandel« die Systemfrage zu stellen. Nicht zum ersten Mal, denn all die Risse im System, die gab es schon vor der Pandemie: Die Zahl der Hungernden weltweit steigt nicht erst durch die Corona-Krise, sondern bereits seit fünf Jahren wieder an. Die UN musste kürzlich konstatieren, dass sie in den letzten zehn Jahren kein einziges ihrer für 2020 gesetzten Ziele zum Schutz der Biodiversität erreicht hat. Die Temperaturkurve des Planeten kennt nur eine Richtung. Dürren und Extremwetter nehmen zu, derweil die Kluft zwischen Sollen und Sein, zwischen Anspruch und Wirklichkeit mit jeder Klimakonferenz eher größer als kleiner wird. Der Konsum tierischer Produkte, den drastisch zu reduzieren ein zentraler Hebel beim Klima- und Biodiversitätsschutz wäre, bleibt unverändert hoch (zu hoch) und steigt besonders in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern.

Dass dieses System keine Zukunft hat, weil es Zukunft zerstört, ist mittlerweile selbst in weiten Kreisen der Wissenschaft Common Sense. Wer die kritische

Agrardebatte, so wie sie ja auch in diesem Bericht seit Jahrzehnten geführt wird, verfolgt, reibt sich verwundert die Augen, wenn er von all dem »Transformationsbedarf« liest, den selbst bisher eher konservativ eingestellte Beratergremien von der Politik einfordern. So weit, so gut.

Doch in der Realität herrscht weitgehend business as usual – statt des beschworenen tiefgreifenden Wandels hin zu ökologischen und resilienten Wirtschaftsund Bewirtschaftungsformen, hin zu einer an der Fläche angepassten Tierhaltung, zu gestärkten regionalen Wirtschafts- und Versorgungskreisläufen, zu solidarischeren Beziehungen zwischen Bauern, Bäuerinnen und Bürger*innen, aber auch zwischen den wohlhabenden Menschen des globalen Nordens und denen des Südens. Immer deutlicher wird, auch in der Corona-Krise:

Was wir brauchen ist eine tiefgreifende Transformation des Agrar- und Ernährungssystems. Eine globale Wende, die sich im Regionalen bewähren muss und dabei den Klimaschutz fest im Blick hat. Denn die Landwirtschaft ist zwar zweifellos Opfer der Erderhitzung, was selbst in unseren Breiten immer deutlicher wird. Bestimmte Formen von Landwirtschaft und Ernährung gehören aber auch zu den wichtigsten Treibern der Erderwärmung. Je nachdem, wo man die Systemgrenzen zieht, gehen 30 bis 40 Prozent der gesamten menschlichen Treibhausgasemissionen auf den Agrar- und Ernährungssektor zurück. Mit unserer Ernährung greifen wir offenbar tief in den Metabolismus unseres Planeten ein.

Umgekehrt liegt genau darin eine enorme Chance: Die ökologische Agrar- und Ernährungswende erweist sich immer mehr als unverzichtbarer Baustein, um die dringend nötige »Klimawende« mit dem Ziel umzusetzen, die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius, möglichst unter 1,5 Grad, zu begrenzen.
Damit würden auch die durch die Erderhitzung stark gefährdeten Naturräume mit ihrer biologischen Vielfalt geschützt.

Es gibt wegweisende und Mut machende Beispiele sowie Ergebnisse der Wissenschaft, die zeigen, wie all das gelingen könnte. Einige von ihnen werden im Schwerpunkteil dieses Agrarberichts, der 23der insgesamt 48 Beiträge umfasst, vorgestellt:

• Der vielfältige Nutzen agrarökologischer Anbauformen für die Ernährungssicherheit und -souveränität, gerade in Zeiten des Klimawandels (siehe S. 19*).
• Mehr Klimaschutz und Klimaresilienz sowie Ertragssicherung durch ökologische Bewirtschaftung (S. 122).
• Statt »Rinderbashing«: Die Beibehaltung und Förderung der Weidehaltung als aktiver Klimaschutz (S. 48).
• Der Nachweis, dass tierfreundliche Haltungsverfahren in Außenklimaställen durchaus umwelt- und
• klimafreundlich betrieben werden können (S. 269).
• Ungenutzte Synergieeffekte bei Biogaserzeugung und landwirtschaftlicher Tierhaltung (S. 74).
• Ertragreiche, humusfördernde und ökologisch wertvolle Anbauformen einer biointensiven Landwirtschaft (Mikrofarming) (S. 135).
• Modelle einer wasserschonenden Landwirtschaft, um in Zeiten des Klimawandels die Schere zwischen erhöhtem Wasserbedarf und verringerter Wasserverfügbarkeit zu schließen (S. 218).
• Agroforstwirtschaft als Versuch, den Wald gleichsam aufs Feld zu holen, um so Dürre und Winderosion zu mildern (S. 241).
• Vorschläge für einen »qualifizierten Marktzugang« im Welthandel, der sich an ökologischen und sozialen Kriterien orientiert (S. 61).
• Formen solidarischer (Land-)Wirtschaft mit neuen solidarischen Handelsbeziehungen zum globalen Süden (S. 196).
• Die Reaktivierung regionaler Schlachtstätten mit menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen als Antwort auf Tönnies & Co (S. 178).
• Die weitere Entwicklung gesunder und klimafreundlicher pflanzlicher Alternativen zu Lebensmitteln tierischen Ursprungs (S. 335).

Die Beispiele und Konzepte zeigen, dass die notwendige Agrar- und Ernährungswende zwar komplex und vielfältig ist. Sie zeigen aber auch, dass sie nicht nur in kleinen Nischen, sondern durchaus unter heutigen Rahmenbedingungen in der Breite realisiert werden kann. Fazit: »Die Zukunft ist schon da. Sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt.« (William Gibson)

Bleibt zu hoffen, dass es gelingt, diesen Spirit in die agrarpolitischen Debatten des deutschen »Superwahljahrs« 2021 einzubringen. Im Zentrum wird dabei die neue EU-Agrarpolitik stehen. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch die EU-Kommission haben die Erwartung, dass auch mit den vielfältigen Mitteln der EU-Agrarpolitik die Ziele des Green Deals als europäische Zukunftsstrategie umgesetzt werden.

Vielversprechende Ansätze in der Biodiversitäts- und Farm-to-Fork-Strategie der EU-Kommission stoßen jedoch unvermittelt auf einen veralteten Reformvorschlag, der den eigentlichen Reformbedarf (und insbesondere die Ziele des Pariser Klimaabkommens) nicht zu kennen scheint. Dabei sollte jedem/jeder einleuchten: Mit einer Politik von gestern lassen sich die Probleme von heute nicht lösen, geschweige denn die von morgen.

Wir danken den 86 Autorinnen und Autoren, die zum Teil selber vielfältig in den sozialen Bewegungen für eine Agrar- und Ernährungswende aktiv sind. Mit ihren Beobachtungen und Analysen tragen sie maßgeblich zum Gelingen dieses agrarpolitischen Jahrbuchs bei. Dank gebührt auch den Stiftungen, Unternehmen und Organisationen, die durch ihre nachhaltige finanzielle Unterstützung die Arbeit am Kritischen Agrarbericht seit vielen Jahren ermöglichen.

Für die Redaktion:
Manuel Schneider, Andrea Fink-Keßler,
Friedhelm Stodieck
Für Vorstand und Geschäftsführung des AgrarBündnis:
Jochen Dettmer, Clemens Gabriel, Jenny Schlosser, Frieder Thomas, Tilman Uhlenhaut, Bernd Voß