2024

„Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Jetzt muss man nur noch schießen.“ Noch vor zwei Jahren war das eine beliebte Metapher in der Agrardebatte. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hatte ihren Abschlussbericht vorgelegt, zuvor bereits das Kompetenzwerk Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) seine Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung. Alles schien gesagt, durchdacht und durchgerechnet zu sein, was es braucht, um Landwirtschaft und Tierhaltung zukunftsfest zu machen. Zumal all die Kompromisse und Vorschläge für eine Transformation des Agrar- und Ernährungssektors von einem denkbar breit aufgestellten Zusammenschluss unterschiedlichster Interessensgruppen und mit tatkräftiger Unterstützung der Wissenschaft mühsam erarbeitet worden waren – und daher umso mehr eine Steilvorlage für die Politik hätten liefern können.

„So viel Aufbruchstimmung war nie“, schrieben wir damals an dieser Stelle. „Die Notwendigkeit eines tiefgreifenden Umbaus des Agrarsystems, der auch den sozialen und ökonomischen Interessen der Bäuerinnen und Bauern gerecht wird und gleichzeitig den Schutz der Tiere und der natürlichen Lebensgrundlagen in den Fokus rückt – dieses existenzielle Thema rückt immer erkennbarer ins Zentrum der Politik.“

Heute klingt das wie aus einer fernen, anderen Zeit. Der nunmehr bereits fast zwei Jahre andauernde russische Angriffskrieg auf die Ukraine wurde für die Agrarlobby zum willkommenen Anlass, Kernpunkte der EU-Agrarreform und die weitere Ökologisierung der Landwirtschaft auszuhebeln (die gleiche Lobby übrigens, die an den oben genannten Kommissionen noch mitgewirkt hatte). Was wir derzeit erleben, ist ein agrarpolitisches Rollback auf allen Ebenen, in Brüssel ebenso wie in Berlin.

Unter dem vermeintlichen Vorwand, die globale Ernährungssicherheit sei andernfalls gefährdet, hat die EU-Kommission in diesen Tagen das gefährliche Ackergift Glyphosat für zehn weitere Jahre genehmigt, nachdem die Mitgliedstaaten sich hier nicht zu einer klaren Position haben durchringen können; auch die deutsche Bundesregierung nicht, obwohl sie sich mit ihrem Koalitionsvertrag anderes vorgenommen hatte.

Fast zeitgleich mit der Glyphosat-Verlängerung hat das EU-Parlament das geplante EU-Gesetz zur Pestizidreduktion gekippt. Mit ihm wären die EU-Länder verpflichtet gewesen, ihren Pestizideinsatz bis 2030 zu halbieren – bis dato ein zentrales Vorhaben der Farm-to-Fork-Strategie im Rahmen des vollmundig angekündigten Green Deal der EU. Auch die angekündigte Überarbeitung der EU-Tierschutzgesetzgebung wurde zum großen Teil auf die kommende Legislatur verschoben.

Nicht anders als skandalös zu nennen sind die Ambitionen der EU-Kommission in Sachen Neuer Gentechnik. Mit ihren Plänen zur nahezu vollständigen Deregulierung dieser Risikotechnologie wird – ganz im Sinne der Gentechnikkonzerne – ein Systemwechsel mit ungeahnten Folgen vollzogen: weg vom bislang gültigen Verursacher- und Vorsorgeprinzip hin zu einer weitgehend ungeprüften Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen unter Verzicht auf jegliche Transparenz und Kennzeichnung. Damit wird eine gentechnikfreie Land- und Lebensmittelwirtschaft, die sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung wünscht, aufs Spiel gesetzt. Dass sich die Ampelregierung bislang bei dieser zentralen Zukunftsfrage nicht zu mehr als einer „Enthaltung“ hat durchringen können, spricht Bände.

Statt die Transformation hin zu einem gesunden, gerechten und umweltfreundlichen Agrar- und Ernährungssystem zu beschleunigen, wird sie momentan an allen Ecken und Enden ausgebremst.

Dies gilt auch für den Bereich, der den diesjährigen Schwerpunkt unseres Kritischen Agrarberichts bildet und dem 25 der insgesamt 46 Beiträge gewidmet sind: „Tiere und die Transformation der Landwirtschaft“. Der Prozess des Umbaus der Tierhaltung droht an parteipolitischen Querelen, fehlender Finanzierung, aber auch an mangelnder Einsicht in seine gesellschaftliche und ökonomische Notwendigkeit zu scheitern. Die Selbstauflösung der Borchert-Kommission ist symptomatisch für diese Misere.

Dies in einer Zeit, in der die Zahl der tierhaltenden Betriebe dramatisch sinkt, nicht zuletzt, weil den Bäuerinnen und Bauern die Perspektive genommen wurde und sie weitgehend allein gelassen werden: von einer Verbraucherschaft, die zwar mehr Tierschutz und zugleich weniger Umwelt- und Klimabelastung durch die Tierhaltung will, angesichts enorm gestiegener Lebensmittelpreise sich dann im Supermarkt aber doch eher für das Billigangebot entscheidet – verleitet von Rabattschlachten der vier großen Handelsketten, die ihrer gesamtgsellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden. Allein gelassen werden die Bäuerinnen und Bauern aber auch von einer Politik, die nicht in der Lage ist, den Betrieben bei dem Umbau ihrer Tierhaltung die nötige finanzielle Unterstützung und vor allem Planungssicherheit zu geben.

„Tiere und die Transformation der Landwirtschaft“. Die gedankliche Pointe dieses Schwerpunkts liegt in dem eher unscheinbaren Wörtchen „und“. Denn was die Autor:innen des Agrarberichts – bei aller thematischen Vielfalt – eint, ist die Überzeugung, dass die Transformation der Landwirtschaft als Ganzes nur mit den Tieren gelingen kann, nicht ohne sie. Die Tiere müssen allerdings einen anderen Stellenwert im System der Landwirtschaft erhalten.

Tierhaltung ist allein schon aus ökologischen Gründen – auch mit Blick auf die Futtergewinnung – wieder stärker an die Fläche zu binden, was zwangsläufig eine drastische Reduktion der Tierzahlen zur Folge haben wird. Eine besondere Rolle spielt dabei die Weidehaltung und der Erhalt des Grünlands. Es gilt, die Potenziale nachhaltiger Beweidung für Bodenfruchtbarkeit, Klimaentlastung und biologische Vielfalt stärker zu nutzen. Auch das Tierschutzniveau muss deutlich erhöht werden. Dass dies funktionieren kann, zeigt die Pionierarbeit vieler Verbände aus dem AgrarBündnis: seien es die vielen Biobetriebe, sei es das Neuland-Programm, das seit über 30 Jahren entsprechende Standards setzt, oder das Labelprogramm des Deutschen Tierschutzbundes „Für Mehr Tierschutz“, das vor zehn Jahren eingeführt wurde.

An durchdachten Empfehlungen und Konzepten, an positiven Beispielen aus der Praxis, wie es anders gehen könnte, mangelt es wahrlich nicht. Und der Problemdruck wird von Jahr zu Jahr größer, während die Zahl der Betriebe, die eine solche Transformation des Agrarsektors durchführen könnte, kleiner wird.

Herausgeber und Autor:innen des Kritischen Agrarberichts haben sich daher auch in diesem Jahr vorgenommen, diesen gesamtgesellschaftlichen Umgestaltungsprozess mit ihren Beiträgen konstruktiv-kritisch zu begleiten: Hintergründe und oftmals verdeckte Zusammenhänge zu analysieren, gedankliche Impulse zu geben, Geschichten des Gelingens zu erzählen und Mut zu machen. Aber auch Forderungen an die Politik zu richten. So finden sich auch in diesem Kritischen Agrarbericht in den Jahresrückblicken („Entwicklungen & Trends“) eines jeden Kapitels Kernforderungen an die Politik – fünf aus jedem der zehn Politikfelder, 50 insgesamt.

Der Kritische Agrarbericht, dessen 32. Ausgabe hiermit vorliegt, ist trotz all der widrigen Umstände ein Dokument der Zuversicht – oder zumindest der Unbeirrbarkeit. Mit ihm wird der Ball immer wieder auf den Elfmeterpunkt gelegt. Schießen (und treffen) müssen andere. Die Nachspielzeit jedenfalls läuft.

Wir danken den 68 Autor:innen für ihre Expertise und ihr ehrenamtliches Engagement. Dank gebührt auch den Stiftungen, Unternehmen und Organisationen, die durch ihre nachhaltige finanzielle Unterstützung die Arbeit am Kritischen Agrarbericht immer wieder aufs Neue ermöglichen.

Für die Redaktion:
Manuel Schneider, Andrea Fink-Keßler, Friedhelm Stodieck

Für Vorstand und Geschäftsführung des
AgrarBündnis:
Jochen Dettmer, Clemens Gabriel, Sebastian König, Carolin Pagel, Jenny Schlosser, Frieder Thomas, Bernd Voß

München, im Dezember 2023